Keine Verbindung zur Psychologie


Schon gegen Ende des 19. JH hat die Psychologie den Bereich ihres Namensgebers - den Bereich der Psyche (d.h. Geist oder Seele,) verlassen und sich als Naturwissenschaft zu etablieren versucht.
Um sich als Wissenschaft zu behaupten, bedurfte es einer Unmenge neuer Definitionen und Betrachtungen. Um die ganze Tragweite dieses Wandels zu verstehen, muss man sich vor Augen führen, womit die Naturwissenschaften sich seit je befassen: Der Gegenstand ihrer Forschung waren und sind die objektiven (d.h. gegenständlichen, körperlichen, materiellen) Dinge und Kräfte unserer Welt (resp. der Natur).
Von Prof. Wilhelm Wundt, dem Begründer der sogen. Experimentalpsychologie, ist überliefert, dass er der Überzeugung war, es sei völlig nutzlos, sich mit so "ungreifbaren" Dingen wie dem Geist oder der Seele zu befassen. Er ließ nur "Gegenstände" (gemeint sind hier Untersuchungsgebiete) gelten, die (etwas überspitzt ausgedrückt) gemessen und gewogen werden können. Natürlich entzieht sich Geist - die Seele - diesem Anspruch - und deshalb sah sich Herr Wundt berechtigt, ihn (bzw. sie) aus der modernen Psychologie zu verbannen und sie einfach durch das "Erleben und Verhalten des Menschen" zu ersetzen.


Tierpsychologie?


Natürlich ergab sich einfach durch die Tatsache, dass es in dieser Welt praktisch keine zwei Menschen gibt, die in ihrem Erleben und Verhalten identisch wären, ein neues Problem. Prof. Wundt "löste" es, indem er das Experiment und die Statistik zur Grundlage seiner "objektiven Daten" machte. Da war es kein großer Schritt mehr, aus "ethischen" Gründen Experimente statt am lebenden Menschen vorzugsweise mit Tieren auszuführen. Fortan stammten die meisten Erkenntnisse der modernen Psychologie aus Laborversuchen mit Tieren.
Konsequenter Weise wurde auch das Lernen - die wohl natürlichste Sache für jeden gesunden Menschen - völlig neu definiert, damit sie den Kriterien der "Naturwissenschaften" angepasst werden konnte. Im neuen Begriff für Lernen haben Dinge wie Wissen, verstehen, begreifen, kennen und können keinen Platz mehr - sie lassen sich nicht messen oder wiegen, und auch nicht statistisch erfassen. Die neue Definition lautet in der Psychologie jetzt:
"Lernen wird ... definiert als eine dauerhafte (im Gegensatz zu einer vorübergehenden) Änderung des Verhaltens und von Verhaltenspotentialen, die durch Übung (im Gegensatz etwa Reifung, Prägung oder Krankheit) erfolgt."

Kurz ausgedrückt heißt dies einfach: Lernen verändert Verhalten, woraus sich die Schlussfolgerung ergibt, dass eine Lernstörung vorliegt, wenn trotz "Lernens" gewisse Verhaltensweisen erhalten bleiben. Mit dieser Definition wird auch verständlich, was die "Schulpsychologie" so unverzichtbar macht, und weshalb in unserer Zeit viel mehr Aufmerksamkeit auf "Sozialisation" gelegt wird, denn auf Erwerb von Wissen und Können.

Wer lernt?


Die Lernkunde besinnt sich im Wesentlichen auf jene Bedeutung für "lernen", die den Gedanken der ursprünglichen Schöpfer des Begriffes wiedergibt: "Durch Nachspüren Wissen erwerben, wissend werden."
Aus dieser Definition gehen zwei Dinge hervor, die für die lernkundliche Betrachtung - und in der Folge für den Umgang mit Lernenden! - von wesentlicher Bedeutung sind:
  • Es muss jemand (ein wollendes, bewusstes Wesen!) da sein, der (a) wissend werden will, (b) eine Spur erkennt und (c) dieser Spur nachgehen will.
    Dieser "Jemand" ist aus Sicht der Lernkunde ein bewusstes, wollendes Subjekt, während er aus Sicht der "Lernpsychologie" ein zu veränderndes Objekt ist.
  • Es muss etwas vorhanden sein, dem man nachspüren kann. Somit ist jeder Forscher in dieser Welt zugleich jemand der lernt.
    Dem steht der Denker oder Theoretiker als Gegenstück gegenüber - diese sind Schöpfer neuer Theorien oder neuer Gedanken, aber nicht Schöpfer von Wissen.

Die Schöpfer der modernen Psychologie haben offenbar eine einfache Tatsache übersehen: Wirkliche Denker und Theoretiker bauen auf Wissen auf und schaffen daraus neue Verknüpfungen oder Möglichkeiten.
Wo Theorien und Gedanken aus Nichtwissen - oder aus Ignoranz - entstehen, wo Theorien oder Gedanken das Wissen um Tatsachen ersetzen sollen, kann nichts wirklich Brauchbares herauskommen.

Betrachten wir nun die Unterrichtsgegenstände unserer Schulen (die Gegenstände, Unterrichtsfächer, nicht die Lehrmittel und -methoden!), dann wird offensichtlich, dass es in der Tat eine Menge über Tatsachen zu lernen - also vorhandenem Wissen nachzuspüren! - gibt. Tatsächlich wird aber viel zu viel davon mit dem Ziel, eine Verhaltensveränderung zu bewirken, bis zur Nutzlosigkeit verändert und verzerrt.

Weit reichende Folgen


Der lernkundlich "gut geschulte" Lehrer wird die vorhandene "Spur" so in den Blick rücken, dass das Subjekt sie erkennt und interessiert ist, ihr (selbstbestimmt) zu folgen. und somit sein Wissen, seinen Kenntnisse und Möglichkeiten zu mehren.
Ein psychologisch "gut geschulter Lehrer" wird geeignete "Reize" setzen, um auf das Objekt seiner Tätigkeit einzuwirken, dass die gewünschte oder geforderte Verhaltensänderung zustande kommt.
Weil aber - das lehrt einem die Lebenserfahrung - niemand gern Objekt ist, tritt ein Phänomen auf, das "gelöst" werden muss: Die Motivation zur Teilnahme schwindet in dem Maß, wie die Einwirkung zunimmt. Folglich wird das Thema "Lernmotivation" zu einem Forschungsgebiet der modernen Psychologie.
Natürlich kennt auch die Lernkunde das Problem der "fehlenden Motivation". Doch die andere Betrachtungsweise eröffnet völlig neue Wege zur Lösung:
In der Lernkunde gilt als grundlegende Tatsache, (- auch dies lehrt einem die Lebenserfahrung! -) dass der gesunde Mensch lernen will - also neuen Spuren nachgehen will. Solange er nicht "übersättigt", "anderweitig befasst oder ausgelastet" oder sich gefährdet fühlt, ist er "neugierig" und will eigentlich "alles wissen", was sich ihm bietet. Er ist also grundsätzlich am Lernen interessiert. Das individuelle Interesse ist die Motivation zum selbstbestimmten Lernen.
Das Problem der modernen Schule (ohne Lernkunde) ist also nicht eine fehlende Motivation der Schüler, sondern die durch ungeeignetes Material und ungeeignete Methoden zerstörte oder unterdrückte Motivation der Schüler:
  • Die Motivation wird unterdrückt, weil Schüler viel zu oft mit Stoff, dem sie kein Interesse entgegen bringen (können), übersättigt sind. (Das muss nicht am Stoff selbst liegen, es liegt meist an seiner Darbietung.)
  • Schüler sind viel zu oft von Sorgen (wegen Prüfungen etc.) "anderweitig befasst oder ausgelastet".
  • Schüler fühlen sich viel zu oft in ihrem ureigenem "Sosein" stark gefährdet (oder bedroht), wenn sie der Tatsache bewusst werden, dass die "Reize" sie auf Wege führen, die von anderen bestimmt wurden.

Lernkunde erkennt zum Beispiel als grundlegende Tatsache an, dass eine der stärksten Motivationen dem "individuellen Sein" gilt. Ein gesunder Mensch will "sein Ding" durchziehen: Das beginnt mit der individuellen Kleidung und hört ganz gewiss nicht bei individuellen Interessen, Zielen, Neigungen und ... Verhaltensweisen auf. (Das Phänomen, dass Jugendliche gerne Vorbilder nachahmen, ruht auf ganz anders gelagerten Umständen.)
Das Augenmerk der "psychologisch" orientierten Schule auf Verhaltensänderung richtet sich also direkt gegen das vitale Individual-Interesse der Schüler und vermindert es - für Motivation bleibt kein Potential.

Psychologie als Dienstleister


Weil die moderne "Psychologie" aus ihrem Selbstverständnis das Geistige ("die Psyche") eliminiert und sie durch "Erleben und Verhalten" ersetzt hat, setze ich im Folgenden das Wort Psychologie immer in Anführungszeichen, wenn ich die moderne Wissenschaft "Psychologie", den Behaviourismus (engl. Verhalten = "behaviour") meine. Diese Bezeichnung ist nach meinem Empfinden bedeutend ehrlicher und redlicher verdient als das irreführende "Psychologie", für etwas, das Geistiges nicht anerkennt.
Für manchen meiner Leser mag dies alles übertrieben erscheinen. Das kann ich durchaus verstehen, weil ich gestehen muss: Hätte ich vor - sagen wir: 30 Jahren - dies gelesen, dann hätte ich es nicht nachvollziehen können. Vielleicht hätte ich nicht Partei gegen mein Kind ergriffen (- sofern es solche "Verhaltensweisen" gezeigt hätte) und der Psychologie recht gegeben. Gewiss aber hätte ich die Gesamtlage anders - weniger mutwillig und zerstörerisch - eingeschätzt. Vielleicht hätte ich auch geglaubt, dass wir "in schwierigen Zeiten leben", und dass solche einfach wie das Unwetter mal eben auftreten. Im Übrigen hatte ich damals noch keine Ahnung dessen, was ich dank meines Strebens "Spuren nachzugehen" heute weiß.
Jene Leser (beiderlei Geschlechts), denen die Darstellung übertrieben erscheint, lade ich zu einem kleinen "Lehrausgang" ein: Achten Sie einfach mal mit offenen Augen und wachen Sinnen auf Werbung, die Ihnen täglich unter kommt. Worauf ist sie ausgerichtet?
Fällt es Ihnen schwer, in ihr das Ziel zu erkennen, "Ihr Konsum-Verhalten zu verändern" (zu beeinflussen)? Wie sehr mögen Sie Werbung? Dahinter steht mit der "Werbepsychologie" dieselbe "Psychologie" wie hinter der "Lernpsychologie".
Oder ... betrachten Sie den fortwährenden Einfluss der Medien auf ihre Konsumenten. Erkennen Sie darin die Zielsetzung, Ihr politisches, soziales, gesellschaftliches Verhalten zu verändern? Dahinter steht mit der "Sozialpsychologie" und "Medienpsychologie" dieselbe "Psychologie" wie hinter der Lernpsychologie.
Erst wenn man dies erkennen, wird sich einem die Frage stellen:
Wer gibt dann das zu bildende, erwünschte Verhalten vor?
· Im Fall der Werbung ist es noch leicht erkennbar: Es ist die Wirtschaft, die sich der "Psychologie" als Dienstleister bedient.
· Bei der Politik könnten es noch die "Parteigremien" sein, die auf demokratische Weise ihre Ideale formulieren. Seltsam erscheint dabei nur, dass offenbar die Gremien aller Couleur sich auf ein im Wesentlichen gleiches Ziel einigen, nur halt für unterschiedliche Wege dorthin.
· Bei der öffentlichen Bildung und den Medien aber werden es aber wohl unerkannt im Hintergrund agierende "Bauherren einer neuen Gesellschaft" sein, die "Architekten einer neuen Gesellschaftsordnung" dafür brauchen.

Graue Eminenzen im Hintergrund


Und diese Bauherren waren wohl auch die Auftraggeber - und Finanziers, - die nach einer "neuen, naturwissenschaftlichen Psychologie" verlangten, um den "Baugrund" aufzubereiten. Was uns aber erst bewusst werden muss ist die Tatsache, dass wir alle in ihren Augen das "Baumaterial", mit dem und der "Baugrund", auf dem diese neue Gesellschaft errichtet werden soll.
Mit etwas Überlegung wird ein Umstand klar werden, der viele der gesellschaftlichen Übel unserer Zeit erhellt:
Verhaltensänderung als Zielsetzung ersetzt das, was im Grunde jeder vernünftig denkende Mensch anstrebt. Wie kommt ein vernünftig denkende Mensch zu einem Beschluss? Ich meine: Indem er Daten (d.h. hier Informationen über Tatsachen) bewertet und Schlussfolgerungen daraus zieht. Vernünftige Bewertung setzt Wissen und bewusste Erfahrung voraus und mündet in einen Entschluss, eine entsprechende Handlung zu setzen.
(Dieses "Handlung Setzen" ist das, was die Psychologie als "Verhaltensänderung" auf anderem Weg zu steuern versucht.) Ich lade sie zur sorgältigen Überlegung ein:
· Auf welche Weise liefert Ihnen die gängige Werbung Daten, um zu einem vernünftigen Entschluss zu kommen?
· Wie sieht es mit damit in der Politik aus? Ist es hier nicht geradezu offensichtlich, dass eine überlegte Bewertung der "Daten" unerwünscht ist?
· Stellen Sie dann bitte Ihre eigenen Überlegungen zu Medien und öffentlicher Bildung in dieser Hinsicht an.

Herr Dr. Wundt und Konsorten haben ihr Bestes getan, ihren Auftrag zu erfüllen. Dass sie mit ihrer Arbeit auch unermesslich viel Verwirrung und Des-Orientierung in der Bevölkerung stifteten, mögen manche als "Kollateralschäden" abschreiben, andere aber als große Siege feiern.

Nachbemerkung


Dieser Artikel stellt zugegebener Maßen eine Reihe von "Gedanken" in den Raum, die auch leicht als "Behauptungen" angesehen werden können. Zum Teil ist dies bewusst in der Absicht geschehen, provokant auf die große Kluft zwischen den Idealen einer "neuen Lernkultur" mit Lernkunde und den herrschenden Umständen in den Bildungssystemen unseres Kulturkreises aufmerksam zu machen.
Wir leben mit einem System, das von Menschen geschaffen wurde, von denen die Verwalter und Betreiber des Systems (die Lehrer, Leiter und Manager, möglicher Weise auch die Politiker und Medienmacher) nichts wissen. Zudem werden sie von Drahtziehern im Hintergrund mit "wissenschaftlichen Fakten" gefüttert, die den Zustand des Systems gewissermaßen als "unabwendbares Naturereignis" erklären. Solche Fakten werden von einer Wissenschaft geliefert, die sich gewissermaßem in ihrem Eigentum befindet und Aufträge erfüllt..
Es ist nicht die Schuld der Lehrer, Leiter und Manager im Bildungswesen, dass sie das Design und die Absicht dahinter nicht erkennen können. Es ist ihnen hoch anzurechnen, dass sie dennoch - deutlich erkennbar - ihr Bestes zu geben willens sind. Es ist auch nicht Schuld der Bevölkerung, dass sie der Wissenschaft und der Bildung mehr vertraut, als diese verdienen.
In weiteren Folgen wird den Werten der Lernkunde mehr und tief ergehende Aufmerksamkeit gewidmet werden. Als Erstes wird die Frage "Wer lernt?" näher behandelt. Vielleicht finden Sie in der Zwischenzeit meinen Aufsatz "Spannungsfeld Schule - zwischen Lernkultur und Machtmissbrauch" interessant und lesenswert.