Teil 1.5, Wesentliches rund um Schule


Im Bereich Schule spielen zwei Begriffe eine prominente Rolle, die weithin missverstanden sind und viel zu oft falsch - das heißt so, dass sie nicht das Gewünschte erzielen, - angewendet werden. Es geht hier um die Begriffe Disziplin und Sitten.
Doch bevor wir diese Begriffe näher betrachten, sei der Zweck der Schule noch ergänzend erwähnt:
In Folge 4 dieser Reihe wurde Schule in erster Linie mit Bildung - genauer gesagt, mit Allgemeinbildung - von jungen Menschen verknüpft. Alles dort Gesagt trifft natürlich auch gleichermaßen auf Ausbildung zu, und natürlich gibt es auch Schulen, deren primärer Zweck die Ausbildung (oder Berufsbildung) junger Menschen ist.
Ausbildung ist das (selbstbestimmte) Erwerben von sach- oder fachbezüglichem Wissen und Entwickeln einschlägiger Fertigkeiten eines abgegrenzten Gebietes, z.B. zur beruflichen Qualifikation.
Ausbildung ruht auf der dem Menschen eigenen Bestrebung, etwas zu bewirken und soll befähigen, durch Einsatz der Kräfte das Angestrebte auch zu erreichen.
Ausbildung ist so vielfältig wie das Spektrum der Berufe; es könnte buchstäblich für jeden Beruf eigene Schulen geben, doch eine neue Lernkultur schließt Universitäten (und Hochschulen) nicht in den dargelegten Begriff "Schule" ein, sondern betrachtet sie als eine eigene Kategorie von Forschungs- und Lehranstalten. Natürlich wäre es gut, wenn auch solche Anstalten wesentliche Aspekte einer neuen Lernkultur integrierten, doch dieses Manifest betrifft allgemein die Bildung aller jungen Menschen des Volkes.


Disziplin - was ist das?


Ein wichtiger Begriff im Alltag der Schule ist Disziplin. Im üblichen Sprachgebrauch haben sich zwei Bedeutungen für dieses Wort herausgebildet: Einerseits etwa "Zucht, Unterordnung" und Ähnliches, und andererseits spricht man bei verschiedenen wissenschaftlichen Kategorien oder im Sport ebenfalls von "Disziplinen".
Sprachgeschichtlich betrachtet ist bloß diese zweite Bedeutung eng sinnverwandt mit der Wurzel, der ursprünglichen Absicht zur Wortschöpfung. Die erste, weiter verbreitete und öfter missbrauchte Bedeutung ist vermutlich von "strenger Autorität" geschaffen und verbreitet worden. Ich gehe hier nicht näher darauf ein, weil dies genau so wenig nötig ist wie der Begriff (Disziplin als Zucht und Ordnung) selbst. Beides, Zucht und Ordnung haben keinen erkennbaren Zusammenhang mit der ursprünglichen Bedeutung.
Wie schon in der Einleitung dieses Manifests angeführt, ist für eine neue Lernkultur die Sprache ein wesentliches Element menschlicher Kommunikation, weshalb dem tieferen Verständnis der Wörter und Begriffe großer Wert beigemessen wird.
Disziplin ist das Schaffen und Aufrechterhalten einer äußeren Ordnung, die ein Klima schafft, in der Studieren und Lernen erst möglich wird: Lernen schärft die Fähigkeit zu unterscheiden.
Aus sprachgeschichtlicher Sicht bedeutet Disziplin "unterscheidendes Erfassen", gebildet aus der lateinischen Vorsilbe „dis-", auseinander, und dem lateinischen Verb "capere", fassen, ergreifen. Es bedeutet also so etwas wie "auseinander halten", womit gemeint ist, dass (beim Studieren und Lernen) alles, was dem Lernen nicht förderlich ist, vom Förderlichen "auseinander gehalten" werden soll.
Disziplin bezeichnet also nichts weiter und nichts anderes, als "Freiheit von Störung und Ablenkung" für denjenigen, der lernen will. Und eine Schule, in der Disziplin (in diesem Sinne) herrscht, ist im Grunde eine Wohltat für den Lernenden.
Gewöhnlich wird man mit einer "äußeren Ordnung, die ein Klima des Studierens und Lernens schafft" etwas verbinden, was im allgemeinen Sprachgebrauch als "Sitten" oder "Moral" bezeichnet wird. Man sieht eine solche Ordnung durch fehlende Sitten oder geminderte Moral gefährdet - was bestimmt nicht ganz unbegründet ist, aber trotzdem aufgrund des meist fehlenden tieferen Verständnisses dieser Begriffe nicht das Gewünschte garantiert.

Sitte und Moral


Als Sitten bezeichnet man summarisch Verhaltensregeln, über die sich eine Gemeinschaft von Menschen geeinigt hat.
Solche Regeln ruhen auf Erfahrung, Übereinkunft und oft auch auf religiösem Glauben oder religiös motivierten Forderungen. Ihr Zweck ist es, das Gemeinschaftsleben möglichst reibungslos zu gestalten.
Der Umgang miteinander und untereinander wird durch Sitten geregelt, und hier spielen Höflichkeit, Respekt, Umgangsformen und so weiter mit eine Rolle. Die Anthropologie kennt eine Vielzahl höchst unterschiedlicher Sitten der verschiedensten Völker, doch allen ist im Wesentlichen gemein, dass sie aus dem Streben des Menschen, in friedlicher Gemeinschaft zu leben, rühren.
Sitten werden in der Erziehung - vor allem durch das Vorbild - an den Nachwuchs weitergegeben. Sitten sind der Veränderung unterworfen, wenn die äußeren Lebensbedingungen sich verändern.
So mag zum Beispiel in schwierigen Zeiten eine Sitte entstanden sein, die den Nachwuchs vermeintlich zum Wohl der Gemeinschaft bei Vergehen streng bestraft. Solche Bestrafung erscheint sinn- und zwecklos, wenn die Lebensumständen ins Leichte, Angenehme, Reichliche usw. sich verändern. Trotzdem kommt es vor, dass ursprünglich situationsbedingte Sitten auch erhalten bleiben, wenn ihr ursprünglicher Anlass nicht mehr gegeben ist. Veränderte Umstände bedingen veränderte Sitten, und wenn dies unbeachtet bleibt, verlieren Sitten zumindest teilweise ihren Sinn.
Aus Sicht einer neuen Lernkultur ist wesentlich zu erkennen, dass Sitten einem "lebendigem Streben nach Wohlergehen" entspringen, und von der (räumlich begrenzten) menschlichen Gemeinschaft selbst geformt werden. So haben oft nur wenig voneinander entfernt lebende Stämme eines Volkes deutlich unterschiedliche Sitten - weil ihre Lebensumstände unterschiedlich sind.
Es kann nicht "einen Standard" von Sitten geben. Gerade in Gesellschaften, in denen unterschiedliche Kulturen aufeinander treffen - so wie moderne demokratische Gebilde existieren - treffen zwangsläufig unterschiedlich Sitten aufeinander. Es wäre also ziemlich unsinnig, im Zusammenleben auf "einen Standard" von Sitten zu pochen. Solche Gesellschaften sind gefordert, neue Sitten auf Grundlage der Gegebenheiten zu formen, und zu diesem Vorhaben bedarf es eines tieferen Verständnisses des Wesens der Sitten.
Ein weiterer Begriff, der oft synonym mit Sitten gebraucht wird, ist "Moral" (oft auch nach seiner lateinischen Herkunft "mores" genannt). Ihm liegt eine lateinische Wurzel mit der Bedeutung "Wille" zu Grunde.

Moral umfasst gewöhnlich Verhaltensregeln aus meist religiöser Sicht (hier zeigt sich die sprachliche Wurzel "Wille" und bezog sich ursprünglich höchstwahrscheinlich auf den Willen Gottes).
Die Begriffe Moral und Sitten werden aus Unkenntnis der tieferen Bedeutung beider Begriffe oft als synonym (= sinngleich) benutzt. Weil "Moral" sprachgeschichtlich (lat. mores = Sitten) die gleiche Bedeutung hat wie "Sitten", scheint dies auf den oberflächlichen ersten Blick auch gerechtfertigt.
Tatsächlich wurde der Begriff Moral jedoch von religiös motivierten Kräften anstelle des profanen Begriffs "Sitten" eingeführt, um dem Begriff Moral (als "Wille Gottes") größere Wertigkeit zu verleihen. Die moralischen Regeln galten diesen Kräften als "von Gott geboten" und duldeten schon allein aus diesem Grund keine Ausnahmen oder Veränderung.
Für den Menschen, der (einen bestimmten) Gott und seine Gebote als "höchste Instanz im Leben" anerkennt, mag diese Auffassung nicht nur völlig akzeptabel sein, sondern die einzig richtige.
Zieht man aber die Vielfalt der Kulturen in modernen Demokratien in Betracht, dann kann diese Auffassung totalitär und autoritär empfunden werden. Dies schon ganz einfach deshalb, weil die unterschiedlichen Kulturen mit verschiedenen Religionen entstanden, und unterschiedliche Gottesbegriffe haben.
Aus Sicht einer neuen Lernkultur ist gar nichts gegen "Moral" oder "moralische Gebote" einzuwenden, solange sie ihrem Wesen und Ursprung nach verstanden sind. Sind sie richtig verstanden, dann kann es nicht geschehen, dass eine Gemeinschaft einer anderen - mit womöglich völlig anderem religiösen Hintergrund - ihre eigene Moral oktroyiert.

Ethos


Die beiden eben behandelten Begriffe gehen im Wesentlichen auf eine menschliche Grundeigenschaft zurück. Diese Grundeigenschaft hat - von den alten Griechen übernommen - die Bezeichnung "Ethos".
Das menschliche Ethos ist völlig unabhängig von den Lebensumständen und religiöser Prägung. Ethos ist im Menschen "schon im Design" - also von Grund auf in seiner physisch-geistigen Struktur - angelegt, es stammt aus dem urtümlichen Bestreben, glücklich möglichst lange zu leben.
Sprachgeschichtlich bedeutet das altgriechische Wort "ethos" Gewohnheit oder Sitte, auch Sittlichkeit - allerdings in einem anderen Zusammenhang als unser Wort Sitte (wie oben dargelegt). Ethos wurde ins Deutsche übernommen, um eine menschliche Qualität zu bezeichnen, die am besten mit dem deutschen Wort "Gesinnung" bezeichnet wird.
Was bedeutet dann Gesinnung? Wenn wir seiner Bedeutung nach den Regeln der Wortbildung im Deutschen nachspüren, dann sehen wir in der Vorsilbe "-ge" ein "sprachliches Teilchen", zur Benennung eine Mehrheit von, eine Ansammlung von oder ein Gebilde aus vielem Gleichartigen. Wir finden es im Wort "Gebirge" - eine Ansammlung von Bergen, ein Ganzes aus vielen Bergen; im Wort "Gebüsch" - eine Ansammlung von Büschen, und auch im Wort "Geschrei" - eine Menge Schreie, und so vielen anderen ähnlichen Wörtern.
Das Grundwort von Gesinnung ist offenbar "die Sinne" - Gesinnung bezeichnet also ein "Gebilde aus allen Sinnen", aber was soll man darunter verstehen?

Ethos (Gesinnung) ist die Gesamtheit dessen, worauf das menschliche Sinnen (und Trachten) ausgerichtet ist. Das unvergängliche Ziel, das sich durch alle Lebensäußerungen zeigt, ist bei näherer Betrachtung einfach am Leben und glücklich zu sein. Das Hauptwort Gesinnung ist abgeleitet vom Verb "gesinnen", welches "an etwas denken, nach etwas verlangen oder nach etwas streben" bedeutet.
"Sinnen" ist das hauptwörtlich gebrauchte Zeitwort sinnen, welches jene Aktivität bezeichnet, wenn man überlegt, wie man etwas tun, bewerkstelligen oder erreichen kann. Und "Trachten" ist das hauptwörtlich gebrauchte Zeitwort trachten, womit das bezeichnet wird, was man tut, wenn man an etwas Beabsichtigtes denkt, es erwägt, danach strebt ... - es bezeichnet also das, worauf die geistigen und körperlichen Kräfte ausgerichtet sind, worauf die (organischen und geistigen) Sinne ausgerichtet sind.
Ethos ist unmittelbar dem Leben schlechthin "verbunden" und nur mittelbar dem Wollen des Individuums. Es umfasst alle Vernunft und Logik, derer das Individuum fähig ist, um dieses Leben nicht bloß zu erhalten, sondern es möglichst glücklich zu führen. Allerdings beeinflussen Erziehung und Wollen des Individuums sein Ethos, dieses kann somit auch "strak verbogen" werden und seltsame Wege einschlagen.
Gewiss, hier kann der Einwand kommen, dass die Realität einen das Gegenteil beweise. Doch dies erscheint nur bei oberflächlicher Betrachtung so zu sein. Selbst das (sogenannte) Böse strebt im Grunde nur nach dem, was es ("das Böse") aus der Sicht seines Standpunktes für gut und "für das Leben förderlich" ansieht. Denkt man dies zu Ende, wird man erkennen, dass dem "sterbenskranken Menschen" der Tod als etwas Gutes, etwas Erstrebenwertes erscheinen mag. Man muss nur über die körperliche Existenz hinausdenken und "sterbenskrank" nicht bloß für körperliche Krankheit, Verletzung oder Schwäche gelten lassen, sondern auch für ihre geistigen Äquivalente.
Von diesem Standpunkt aus kann man auch sehen, dass sowohl die Sitten als auch die Moral aus dieser einen Wurzel der menschlichen Existenz wachsen - aus dem ausnahmslos jedem Menschen eigenem Ethos, dem vitalen Streben glücklich am Leben zu sein. Nur aus diesem Antrieb erwächst das Streben nach Sitte oder Moral als Mittel zum Erreichen des Zieles.
Für eine neue Lernkultur ist deshalb Ethos wichtiger als Sitten und Moral, denn der Mensch entwickelt Sitten und Moral auf der Grundlage seines Ethos. Sitten und Moral sind als Angelegenheit menschlicher Gemeinschaft dem Wandel unterworfen, Ethos ist unwandelbare Angelegenheit des lebendigen Individuums.
Vom Ethos kommen wir zur Ethik; sprachlich betrachtet ist "Ethik" als Wortbildung abgeleitet von "Ethos" mit der Nachsilbe "-ik" (ähnlich wie die Physik von der Physis) zur Bezeichnung des "Wissens um das Wirken von ...". (Vergl. die kurze Abhandlung zu "Pädagogik"!).

Ethik ist wissenschaftliches und technologisches Wissen über das Ethos und sein Wirken.
Im herkömmlichen Sprachgebrauch wird jedoch Ethik als "Sittenlehre" aufgefasst - was zwar (in Anbetracht des bereits Gesagten) nicht ganz falsch ist, aber für die Verwendung im Zusammenhang mit einer neuen Lernkultur ungenügend und irreführend:
Auf der Grundlage des Ethos entwickeln verschiedene Gemeinschaften ihr eigene Ethik sowohl als Regelwerk ihres speziellen Verhaltens (z.B. die Ethik des Arztes, des Juristen, des Ingenieurs usw.), um sie (diese Ethik) ihrem Nachwuchs bzw. ihren Mitgliedern zu lehren. Aus dieser Tatsache ergibt sich, dass "Ethik" im Grunde bloß eine "Sittenlehre" ist, und dass es je nach Gemeinschaft (und unterschiedlichen Sitten) entsprechend unterschiedliche "Sittenlehren" gibt.
Vom eigentlichen Wesen der Ethik als "Wissen über das menschliche Ethos und sein Wirken" bleibt in dieser Auffassung nichts mehr übrig. Und es wird auch erkennbar, dass die moderne Bestrebung, in Schulen anstelle des (konfessionellen) Religionsunterrichts einen profanen Ethikunterricht einzuführen, im Grunde bloß ein hilfloses Unterfangen ist. Er erreicht im Wesentlichen nichts weiter, als klar religiöse Elemente zu eliminieren und eine "Sittenlehre" zu bieten, die letztlich doch nichts anderes ist, als eine ein anonymes Diktat und eine Abwertung aller Religion.
Eine neue Lernkultur versteht Ethik ganz klar als wissenschaftlich-technologisches* Wissen über das menschliche Ethos und seine Gesetzmäßigkeiten. Es ist somit frei sowohl von religiösen als auch sittlichen Elementen - diese kommen erst in der Anwendung der Ethik in bestimmten Gemeinschaften zu Tragen. Dieses Verständnis lässt das Grundrecht des Menschen auf eigene Religion und Sitten unangetastet.
("technlologisch" bezieht sich hier eindeutig auf "Verfahrenskunde", also auf das Wie, Womit und Wodurch etwas bewerkstelligt wird!)

Nur wenn die verschiedenen Gruppen-Ethiken auf echter Ethik aufbauen und sie als ihren Kern erkennen und anerkennen, können menschliche Gemeinschaften auf Dauer ein glückliches Leben gewährleisten.
Wenn das Ethos die Triebkraft darstellt, glücklich am Leben zu sein, dann kann daraus abgeleitet werden, dass ein Mensch, der mehr oder weniger unglücklich am Leben ist, es nur deshalb ist, weil dieser Antrieb (sein Ethos,) durch eine Störung vom eigentlichen Ziel abgelenkt ist.
Eine solche "Ablenkung" ist bildlich betrachtet mit Spiegel oder Filter u.ä. im Weg eines Lichtstrahles vergleichbar. Der Spiegel lenkt den Lichtstrahl ab und gibt ihm eine neue Richtung: Er kann das ursprüngliche Ziel nicht mehr erreichen. Jemand, der die Ausbreitung von Licht kennt, kann die Ursache für die Umlenkung erkennen und sie beseitigen.
Fundierte Kenntnis der Ethik (im Sinne einer neuen Lernkultur) ermöglicht es, die Ursachen der "Ablenkung der strebenden Kraft" zu erkennen und diese Ursache zu beseitigen, sodass dieses "lebendige Kraft des Ethos" wieder sicher sein Ziel erreicht:
Die technologischen (d.h. verfahrenskundlichen) Elemente der Ethik zeigen über die gesetzmäßigen Wirkungen des Ethos Möglichkeiten auf, jede Abweichung vom "glücklich am Leben sein" zu erkennen und zu beseitigen. Und darin liegt der ganze Wert und Nutzen eines wahren Ethik-Unterrichts.
Das Wissen um Ethik befähigt den Menschen, glücklich am Leben zu sein, bei Abweichungen davon die Ursachen zu erkennen und beseitigen zu können, und dauerhaft glücklich am Leben zu bleiben.